Wortbeitrag auf der Lufthansa-Hauptversammlung

Dr. Reinhold Grether
15. Juni 2000 in Berlin

Als Internetforscher an der Universitaet Konstanz reise ich weltweit von Kongress zu Kongress und gelte als Experte für Netzkultur und New Economy. Meine Doktorarbeit traegt den Titel "Sehnsucht nach Weltkultur". Sehnsucht nach Weltkultur ist es, was mich mit der Lufthansa verbindet. Niemand bringt Menschen weltweit so schnell, so angenehm und in so grosser Zahl in Verbindung wie Fluggesellschaften. Lassen Sie mich dafuer meinen herzlichen Dank aussprechen.

Die Offenheit der Welt zu befoerdern, wie Sie es tun, ist ein grosses, aller Anstrengungen wertes Ziel. Darum lohnt es sich, sich immer wieder zu fragen, ob nicht einzelne Elemente unserer Handelns diesem Ziel widersprechen. Kleine Fehlentwicklungen, denken Sie an eine boesartige Zelle in einem Koerper, koennen sich zu einer Gefahr für das ganze auswachsen. Ich erlaube mir deshalb, Sie auf ein "potenziell ergebnis- und bestandsgefaehrdendes Risiko" (Geschaeftsbericht, S. 17) aufmerksam machen. Und zwar im und durch das Internet. Ein kurzes Beispiel.

Ende November letzten Jahres erwirkte der fuehrende Online-Spielevertreiber eToys eine Einstweilige Anordnung, die der weltberuehmten Netzkunstgruppe etoy, zwei Jahre laenger im Netz als eToys, den weiteren Betrieb ihrer Webadresse untersagte, weil die Namensaehnlichkeit, etoy und eToys, zur Kundenverwirrung beitragen koenne. Ein Markenrechtsproblem, wir alle kennen das. Die Auswirkungen auf die weltkulturkapitalbildenden Chancen des Internets, das ja mit Daten dasselbe macht wie Fluggesellschaften mit Reisenden, waeren verheerend gewesen. Durchs Netz lief in Windeseile ein Dreizeiler, der eine weltweite Kampagne vorschlug, um den Boersenwert von eToys, bis dahin eine der aussichtsreichsten Internetaktien, auf Null zu fahren. Kein etoy - kein eToys.

eToys waren damals mit $ 55 notiert, 81 Tage später, als eToys alle Ansprueche zurückzog und der Kuenstlergruppe $ 40,000 Anwaltskosten zahlte, lautete der Kurs $ 13,25. Das ist ein Boersenwertverlust von $ 4,97 Mrd. Schauen Sie sich die Charts an, fragen Sie Analysten. Die Kampagne hatte das Image von eToys so beschaedigt, dass die Auftriebskraefte der Aktie ins Gegenteil umschlugen und die Investoren reihenweise Optionen auf Baisse aufnahmen - und verdienten.

etoy dagegen, die erste rein als Aktiengesellschaft gefuehrte Kunstkorporation, die ihren weltkulturellen Wert im Wert ihrer Aktien spiegelt und ausser ihren Aktien kein Kunstobjekt vertreibt, erfuhr eine enorme Marktwertsteigerung und gilt heute als "strong buy".

(Antwort auf einem Zwischenruf: Ich erinnere daran, dass das Eigenkapital der Lufthansa DM 7,2 Mrd betraegt. Und wir reden hier ueber einen Boersenwertverlust von $ 5 Mrd. Ich werde das Gefuehl nicht los, dass der Lufthansa-Vorstand eine aehnliche Vogel-Strauss-Politik betreibt wie das Management von eToys, und das kann sich verheerend auf die Aktie auswirken.)

Ich habe die etoy-Kampagne wissenschaftlich begleitet und bin gern bereit, dem Lufthansa-Vorstand Einzelheiten zu berichten. Ist es wirtschaftlich vertretbar, Leute mit dem Kranich zu transportieren, die garnicht mitwollen? Waere es nicht klueger, das Geschaeftsfeld "Deportation Class" aufzugeben - bevor der sich abzeichnende katastrophale Image- und Wertverlust tatsaechlich eingetreten ist?

Spaeter gab der Lufthansa-Vorstandsvorsitzende Juergen Weber bekannt, dass sich Lufthansa von der Befoerderungspflicht fuer zwangsweise Abschiebungen befreien lassen moechte und auf Expertenebene in Verhandlungen mit Innen- und Verkehrsministerium steht.

Links zum Thema:
[etoy]
[toywar]
[wie die Etoy-Kampagne geführt wurde]
[durchbruch zum Weltcode]
[blueprint fuer toywar II]
[konfliktfelder der New Economy]

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