Jenseits von Staat und Markt: Perspektiven sozialer Bewegungen in Europa
12.Jul.02 - Migrations- und Globalisierungsforum No Border Camp Strasbourg 2002
I. Einleitung
Zu Beginn des neuen Jahrtausends steht der Kapitalismus im Zentrum einer neuen Expansi-onsphase, welche die traditionellen Organisierungen in Nationalstaaten nicht mehr unterstüt-zen konnten. Die Anzeichen von weltweitem sozialem Widerstand, generalisierten wirt-schaftlichen Krisen sowie wirtschaftlichen Umstrukturierungen werden immer offensichtli-cher. Der Wachstumszwang des Kapitals erreicht physische, soziale und ökologische Gren-zen und erzeugt wachsenden Widerstand von sozialen Bewegungen.
Von Argentinien bis Afghanistan, von den Anden bis New York, von den Bergen des Lacan-donischen Urwalds bis auf die Strassen von Genua und Strassburg wird diese Entwicklung mit zunehmendem Widerstand konfrontiert. Als Folge der Absatzförderung werden neue Le-bensgebiete globalisiert, wie das Wasser, das wir trinken, die Lebensmittel, die wir essen, unsere Gene oder der Verlust der Wohlfahrtstandards in den Staaten Europas oder in schlimmeren Fällen bedeutet es ganz einfach Abschiebung, Zerstörung der Erwerbsfähigkeit oder wirtschaftliche Zwangsmigration.
Es gibt drei generelle, miteinander verflochtene Tendenzen, welche das politische Zeitalter, indem wir leben grob charakterisieren:
1. "mit uns oder gegen uns"
Um Anhäufung und Expansion des Kapitals aufrecht zu erhalten, besteht der Zwang die neoliberale Tagesordnung durchzusetzen, was bedeutet: neuer "freier" Handel, wirtschaftliche Umstrukturierung in Form von weltweiter Produktion, Privatisierung von fundamentalen Lebensgebieten wie Wasser, Gene, Gesundheit und Bildung. Der Gebrauch von militärischer Macht um diese Entwicklung voranzutreiben wird immer häufiger, das Gleiche gilt für die Verbreitung von Angst und der immer schärfer wer- denden sozialen Überwachung, besonders in der westlichen Gesellschaft. Rassis-mus, autoritäre Gesetze und Machtpolitik nehmen überall zu. Seit dem 11. Septem-ber wird dieser Prozess mit dem "Krieg gegen den Terror" und dem "Kampf gegen Drogen" ideologisch gerechtfertigt. Zugleich laufen drakonische Bestrebungen einen allgemeinen Ausnahmezustand auszurufen und eine künstliche Aufteilung der Welt in die Verteidiger der westlichen Wertvorstellungen und die bösen Menschen, welche diese nicht akzeptieren wollen, vorzunehmen.
Dieser neoliberale Kapitalismus hängt häufig von der Kriminalisierung der Migration ab, damit billige Arbeitskräfte und reduzierte Produktionspreise möglich sind um dem Konkurrenzkampf gewachsen zu sein.
2. "Eine andere Form des Kapitalismus ist möglich"
Andere hoffen auf die Stabilisierung der kapitalistischen Krise durch die neokeyne-sianische Politik, welche die Umverteilung von Vermögen durch den Staat oder durch eine globale Regierung (global governance) vorsieht, mit dem Ziel soziale Ungleich-heiten zu reduzieren, Massenkonsum voranzutreiben und die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zu sichern. Diese Tendenzen sind oft verbunden mit Schutzzoll-massnahmen, Bestimmungen des Staates und einer Portion nationalistischen Argu- menten.
Diese zwei Tendenzen sind nicht immer in Widerspruch miteinander da sie sich oft sogar ergänzen und sich im selben Rahmen bewegen. Zum Beispiel, wenn der Staat Produkte und Produktion subventioniert, während er offene und freie Handelspolitik predigt.
3. Diesen Entwicklungen steht eine steigende Anzahl sozialer Bewegungen und Men-schen weltweit gegenüber, die neue Welten ausserhalb der Grundsätze des Staates und des Marktes erforschen. Sei es, weil sie nicht an Staat und Markt glauben oder weil sie die oben beschriebenen Tendenzen überwinden möchten oder ganz einfach, weil ihnen gar keine andere Wahl gelassen wird um zu überleben.
Die Krisen, die Veränderungen, die wirtschaftlichen Umstrukturierungen, die Unter-drückungen werden von uns allen unterschiedlich wahrgenommen, durch verschie-dene soziale Bewegungen, durch unterschiedliche Themen im Kampf.
Was auch immer unsere Wahrnehmungen sein mögen, es ist ziemlich offensichtlich, dass die existierenden Konflikte in Zukunft wohl eher Zu- als Abnehmen werden.
Die globalen Aktionstage- und Gegengipfelmobilisierungen der letzen Jahre, bei de-nen konsequent die Legitimität der verschiedenen Organisationen, wie die WTO, die IMF oder die EU angegriffen wurden, haben es geschafft den Mythos des "Endes der Geschichte" zu brechen, welches nach dem Ende des Kalten Krieges behauptete, der einzige Weg die Gesellschaft zu gestalten läge im Kapitalismus. Die kollektive Über-zeugung sich eine Welt jenseits des Kapitalismus vorzustellen wurde möglich. Zu- sätzlich begannen verschiedene unabhängige Netzwerke eine Philosophie zu disku-tieren und zu organisieren, welche auf Autonomie und Dezentralisierung und dem Geist der direkten Demokratie und Ausgeglichenheit beruht.
Zur selben Zeit bekämpften viele andere Menschen und soziale Bewegungen ver-mehrt Rassismus und die Legitimität des Grenzregimes, als einen der fundamentalen Widersprüche des Neoliberalismus, welcher dem Kapital mehr Bewegungsfreiheit gibt aber mehr Gefängnisse für und Kontrollen von bestimmten Menschen benötigt. Der Kampf gegen das Grenzregime, die Internierungslager, und gegen den Rassismus hat auch wesentlich dazu beigetragen die Legitimität der EU und der staatlichen Mi- grationspolitik in Frage zu stellen.
Beide Kämpfe fallen schon teilweise zusammen aber müssen noch stärker zusam-menlaufen und miteinander verbunden werden. Die Bewegungsfreiheit muss in einer "Globalisierung der Rechte" verankert sein und die Autonomie der Migration, mit dem Charakter einer sozialen Bewegung ist von besonderer Wichtigkeit wenn wir von "Globalisierung von unten" sprechen. Die Bewegung gegen Neoliberalismus und ka-pitalistische Globalisierung mit dem Ziel alle nationalistischen und protektionistischen Tendenzen abzulehnen hängt von antirassistischen Kämpfen um Bewegungsfreiheit und Rechtsgleichheit ab, angeführt von Flüchtlingen und MigrantInnen und deren Ei- genorganisationen auf der einen Seite und von antirassistischen Aktivisten und (un-terstützenden) Initiativen auf der anderen Seite. Umgekehrt hängt die Migrations- und Antirassistische Bewegung von einer engen Zusammenarbeit mit anderen so-zialen und eigenständigen Kämpfen ab, die antikapitalistischen Bewegungen einge-schlossen.
II. Das Forum: "Migration und Globalisierung"
Das No Border Camp in Strassburg wird Raum für Austausch und zum kennen lernen der gegenseitigen Arbeiten und Organisationen zur Verfügung stellen. Für das Abendforum am Dienstag, 23. Juli werden wir einige Organisationen und/oder Netz-werke, die an antikapitalistischen Protesten, PGA bezogenen Aktivitäten und No Border Camps und ähnliche Aktivitäten beteiligt waren bitten, uns eine kurze Präsentation zu machen.
Bis jetzt haben wir uns an Folgende gewendet: Ya Basta (Italien), Eurodusnie (organisieren die anstehende PGA-Konferenz in Leiden, NL), Movimiento por La Resistancia Global (MRG Catalunya, PGA convenors), No Border Kiew, MIB (Mouvement de l'Immigration et des Ban-lieues), Public Theater Caravan (Wien), das französische nicht- netzwerk "Sans-Titre", eine Gruppe von Kein Mensch ist illegal (Deutschland).
Anstatt langen Reden über wer wir sind und was wir machen zu halten, ziehen wir es vor unsere Kraft dazu einsetzen, unsere Analysen und Vorstellungen der oben beschriebenen Konfliktlinien, der Unterdrückung und den Kämpfen mitzuteilen, um ein besseres, vielseitige-res Bild zu schaffen unserer Wahrnehmungen des aktuellen politischen Momentes in dem wir uns befinden.
Zusammen können wir unsere Visionen ergänzen, voneinander lernen und neue Entschei-dungen wie es weiter gehen soll erarbeiten. Durch Gedankenaustausch und Diskussionen wollen wir gegenseitig unsere Hoffnungen und Ideen zur Geltung bringen. Wir wollen Wege finden um unseren Kämpfen Kraft zu verleihen und unsere Bemühungen zu koordinieren. Lasst uns unsere gemeinsame Verbindung verstärken im Sinne von Autonomie und Dezen-tralisierung!
Basierend auf das zuvor Gesagte, werden wir folgende Fragen an die Organisationen stel-len:
Jenseits von Staat und Markt
Analyse: Wie bewertet ihr die letzten Jahre des Kampfes gegen den Kapitalismus und das Grenzregime an denen ihr beteiligt wart ? Welche Ziele wurden erreicht, welche Möglichkei-ten wurden eröffnet und was können wir von diesen lernen? Gibt es irgendwelche qualitati-ven Änderungen in den Kämpfen seit Genua und dem 11. September? Welches sind die aktuellen, politischen und sozialen Mechanismen die die Machtstrukturen verstärken? Was sind eurer Meinung nach die Herausforderungen denen wir gegenüber stehen?
Handeln: Können Kämpfe, welche Rassismus, soziale Kontrolle und Bewegungsfreiheit be-kämpfen antikapitalistische Kämpfe ergänzen? Wie können Kämpfe welche soziale Verände-rungen NICHT durch den Staat erstreben sondern vielmehr durch die Bildung von vielfältigen horizontalen sozialen Beziehungen ausserhalb der Logik von Staat und Markt, kooperieren? Wie können wir die Legitimität der Macht entgegentreten? Was können wir dagegen tun?
Gruppen werden individuell gebeten einen kleinen Einblick in ihre Erfahrungen in den politi-schen Rahmen (Frankreich, Österreich, Italien, ... ) in dem sie tätig sind zu geben.
Das Forum am Dienstag, 23. wird vor allem eine Input session für das No Border Camp sein. Am Ende des Camps, wahrscheinlich am Freitag, 26. Juli, wird ein Treffen stattfinden um die Diskussionen zu analysieren sowie Vorschläge und die nächsten Schritte zu diskutieren.
Das Resultat unserer Diskussionen sollte zur weiteren Entwicklung anderen Forums zugäng-lich gemacht werden, zum Beispiel der kommenden Peoples Global Action europäischen Konferenz in Leiden, NL vom 31.8. bis 4.9.
Einzelpersonen von Kein Mensch ist illegal, Hanau No Border coordination assembly, Freiburg i.Br.