Reden wir von Europa.
17.May.02 - Einem Europa, das irgendwann einmal verlassen wurde und nun besetzt wird wie ein leeres Haus. Dessen Türen aufgebrochen werden, damit die heruntergekommenen Räume sich wieder mit Leben füllen: einem anderen Leben, das freilich nichts zu tun hat mit dem, was einst unter Europa verstanden wurde. Wir glauben diesem alten Europa nach wie vor kein Wort, wenn es heute statt Humanismus um humanitäre Missionen, statt Kolonialismus um gerechte Kriege, statt Stellvertreterkriege um die eigene Sicherheit geht.
Wenn wir heute von Europa reden, dann nicht, weil wir an Europa glauben. Sondern weil wir auf die Ironie der Geschichte setzen:
Im Zeitalter einer neuen globalen Souveränität haben Abhängigkeit und Unabhängigkeit überall auf der Welt einen neuen Sinn bekommen und die positive wie die negative Fixierung auf Nationalstaaten jede Perspektive verloren.
Wenn wir heute von Europa reden, dann weil wir vorhaben, Europa, dieses abbruchreife Gebilde, endlich einer sinnvollen Nutzung zuzuführen. Weil wir die Chance sehen, mitten in diesem Europa eine andere Welt möglich zu machen.
Wir reden von einem Europa, das erkämpft wird gegen die Mächte des alten Europas der Nationalstaaten, das alte Europa von Kolonialismus, Imperialismus und Faschismus. Das erkämpft werden muss gegen die Mächte des gegenwärtigen Europas mit seinen rechtspopulistischen und postfaschistischen Regierungen, mit seinen progressiven Großmachtphantasien und seiner ungebrochenen humanistischen Heuchelei.
Wir reden von einem Europa, das viel mehr erkämpft werden muss gegen die neue Macht eines imperialen Kommandos, das den Ausnahmezustand zur Regel erhebt und die Privilegien einer liberalen Gesellschaftsordnung ebenso einebnet wie die mühsam errungenen Zonen gelinderter kapitalistischer Ausbeutung.
Wir reden am Ende aber von einem Europa, das weniger gegen das bestehende, als für ein künftiges erkämpft wird. Wir reden von einem virtuellen Europa. Einem Europa, das in und aus vielen anderen Europas besteht. Von Europas, die das Werk von Generationen anderer Menschen im Kampf um Befreiung fortsetzen. Ein Europa, das in den vergangenen Kämpfen von Minderheiten bereits zu erahnen war, das in den Kämpfen der Arbeits- und Papierlosen im Entstehen begriffen ist, in den Kämpfen einer neuen Gewerkschafts- und Umweltschutzbewegung weiter wachsen wird. Ein Europa, das es längst gibt, in dessen Mitte wir leben, das aber trotzdem unsere Vorstellungskraft überschreitet.
Die Menschen, denen die Hoffnung auf das blanke Überleben bald mit der gleichen Selbstverständlichkeit geraubt wird wie das Recht auf Selbstbestimmung, lassen sich nicht fern halten von Europa. Sie machen sich auf den Weg -- wenn nicht freiwillig, dann aus gutem Grund, mit dem festen oder letzten Willen, ein besseres Leben zu erlangen.
Reden wir also von einem offenen Europa. Ein Europa, das sich nicht länger zu sichern vorgibt und abschottet. Ein Europa, das erobert wird vom Rest der Welt. Das aus allen besteht, die hier sind oder hierher wollen. Ein Europa ohne Grenzen. Ein Europa, in dem sich Innen und Außen so miteinander verschränken, dass es untrennbar vernetzt ist mit der Welt.
Reden wir von einem kleinen Europa. Ein Europa ohne Territorium und ohne Identität. Ein Europa, das allen gehört und zu dem alle gehören, die dazugehören wollen, und sei es im Vorübergehen. Ein temporäres Europa, dessen einziger und eigentlicher Sinn darin besteht, Brücken zu schlagen, Beziehungen zu stiften, zu verknüpfen und zu verbinden.
Reden wir von einem demokratischen Europa. Ein Europa, in dem es keine Mehrheit mehr gibt, und deswegen auch keine Minderheiten. Einem Europa, das sich nicht aufteilt oder erweitert wird, sondern immer weiter vervielfältigt. Ein Europa, in dem die materiellen wie immateriellen Grundrechte allen Menschen zustehen, egal in welches Unrecht sie zufälligerweise hineingeboren wurden. Ein Europa, das allen Menschen Bewegungs- und Informationsfreiheit, das Anrecht auf ein gesichertes Auskommen wie die Aussicht auf ein glückliches Leben garantiert.
Reden wir von einem produktiven Europa. Ein Europa, das nicht zwischen nützlichen und unnützen Menschen unterscheidet. Ein Europa, in dem jeder Mensch ein Experte ist. Ein Europa, in dem Wissen nicht als geistiges Eigentum versperrt, sondern zur allgemeinen Nutzung freisteht. Ein kreatives Europa, in dem die Menschen sich die Produktionsmittel aneignen, die sie benötigen, um wenigstens die dringendsten Probleme dieser Welt anzugehen. Ein Europa, das seine Vielfalt, seine Verschiedenartigkeit und seinen Reichtum nicht auf Kosten der restlichen Welt erwirtschaftet, sondern zu einer Globalisierung beisteuert, die diesen Namen verdient.
Sprechen wir von Strasbourg. Sprechen wir vom europäischen NoBorderCamp vom 19.- 28. Juli 2002 in Strasbourg. Verlieren wir einige Worte auf dem Weg, das Europa zu schleifen, welches sich Schengen nennt und geheimnisvoll S I S buchstabiert. Unternehmen wir die Aktionen, welche die herkömmlichen Grenzen Europas überschreiten und unterlaufen. Erwähnen wir die Leidenschaft und den Aufstandswillen des Kumpel Blanqui. Gewinnen wir Freundinnen und Freunde bei einem Festival der Lust. Produzieren wir im Labor des zivilen und sozialen Ungehorsams die unvorstellbaren Wünsche der möglichen Welt. Organisieren wir die Subversion Europas.
Sie kaufen dein Glück, stehlen wir es.
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